China will die Nachfolge des 88-jährigen religiösen Oberhauptes der Tibeter:innen bestimmen.
Mao Zedong soll dem Dalai Lama während eines Treffens 1954 in Peking ins Ohr geflüstert haben: „Religion ist Gift“. Es waren die ersten Jahre nach der Besetzung Tibets durch China. Damals versuchte der Dalai Lama als Tibets politisches und religiöses Oberhaupt noch der regierenden Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) entgegenzukommen.
Der 14. Dalai Lama, Tenzin Gyatso, inthronisiert 1940, ist im Westen vor allem als fröhlicher buddhistischer Mönch bekannt, der mit seiner schelmischen Art gern auch mal Staatsoberhäupter öffentlich zum Lachen bringt. Für sein Volk gilt er als Verkörperung des Buddhas selbst.
Die chinesische Führung aber sieht in ihm einen „Wolf in Mönchskutte“. Nach seinem Tod, immerhin ist der Dalai Lama 88, will sie seine Nachfolge bestimmen – eine machtpolitische Demütigung für Tibeter:innen, die seit mehr als 70 Jahren unter chinesischer Herrschaft leben – rund sechs Millionen in China (Tibet: ca. 3 Mio.) und etwa 140.000 im Ausland, laut Exilregierung 100.000 davon in Indien.
Besetzung und Widerstand. Kurz nach dem Sieg der Kommunisten in China marschierte die Armee 1950 in Tibet ein und besetzte das Land, 80.000 Soldaten wurden eingesetzt. Gegen die chinesische Waffengewalt konnte sich Tibets schwaches Militär nicht wehren. Als Oberhaupt der Tibeter:innen musste der Dalai Lama schließlich unter Androhung von Gewalt das „17-Punkte-Abkommen“ unterzeichnen, welches die Annexion Tibets in die Volksrepublik China formal untermauern sollte. Es ist bis heute völkerrechtlich umstritten.
In Tibet gehören seither religiöse Verfolgung, politische Unterdrückung sowie etliche Zwangsmaßnahmen zur Assimilierung zum Alltag. Für China gilt Tibet seit Jahrhunderten als fester Bestandteil des eigenen Territoriums.
Am 10. März 1959 kam es zum Volksaufstand: Rund 30.000 Tibeter:innen versammelten sich vor der Residenz des Dalai Lamas in der Hauptstadt Lhasa, weil sie befürchteten, er könne von den Chines:innen entführt werden. Das war der Beginn eines Massenaufstands, der vom chinesischen Militär brutal niedergeschlagen wurde und 89.000 Tibeter:innen das Leben kostete.
Bis heute lebt der Widerstand gegen das Regime in Peking weiter. Seit 2009 haben sich mehr als 165 Tibeter:innen aus Protest selbst angezündet. Neben der Freiheit für Tibet forderten sie auch die Rückkehr des Dalai Lama ins Land.
Im Exil. 1959 floh der Dalai Lama. Zehntausende folgten ihm ins Exil nach Nordindien, wo er eine tibetische Exilregierung gründete und das politische System Tibets demokratisierte. 2011 legte er seine politischen Ämter nieder und fungiert seither allein als geistliches Oberhaupt der tibetischen Buddhist:innen.
Regierungschef im Exil wurde fortan ein demokratisch gewählter Präsident. Seit 2021 ist es der 53-jährige Penpa Tsering.
Die tibetische Exilregierung wird von keinem Land offiziell anerkannt. Laut UN-Charta steht dem tibetischen Volk jedoch das Recht auf Selbstbestimmung zu. Das bestätigte 1992 auch die Europäische Union in einer Resolution zu Tibet.
Tibetische Exilpolitiker:innen treffen sich regelmäßig mit Politiker:innen aus der ganzen Welt, um Unterstützung für ihr Anliegen zu bekommen.
Das ist laut offizieller Linie der Exilregierung der sogenannte „Mittlere Weg“, ein Kompromiss, den der Dalai Lama seit 1987 vertritt – ein autonomes Tibet innerhalb der Volksrepublik China. Es gibt aber auch viele Tibeter:innen, die die komplette Unabhängigkeit von China bevorzugen.
Reinkarnation eines Buddhas. Der Dalai Lama ist heute 88 Jahre alt und für die Tibeter:innen das Symbol für die Forderung nach Selbstbestimmung.
Umso wichtiger ist deshalb die Frage nach seiner Nachfolge. 2011 sagte er in einer offiziellen Stellungnahme, im Alter von etwa 90 Jahren seine Entscheidung bekannt zu geben. „Deshalb glaube ich, dass wir in den nächsten Monaten und Jahren von ihm hören werden, auch hinsichtlich der Frage, ob und wie die Linie der Dalai Lamas nach ihm weitergeführt wird“, sagt Kelsang Gyaltsen, ehemaliger Sondergesandter des Dalai Lama in Europa.
Nach dem Glauben tibetischer Buddhist:innen soll Tenzin Gyatso die 14. Inkarnation eines erleuchteten Wesens sein, das aus Mitgefühl immer wieder geboren wird, um das Leid anderer zu mindern. Dieser Tradition zufolge würde die Reinkarnation des nächsten Dalai Lama mithilfe einer speziellen buddhistischen Findungskommission auserwählt.
Was traditionell die Aufgabe eines solchen religiösen Suchtrupps war, betrachtet nun ausgerechnet die atheistische chinesische Regierung als ihre Aufgabe „Das ist pure Machtpolitik“, so Sondergesandter Gyaltsen. „Und ein weiteres Zeichen dafür, welche Respektlosigkeit und Missachtung sie den religiösen Traditionen, Normen und Werten des tibetischen Buddhismus entgegenbringt.“
Anders sieht das die chinesische Regierung, die bereits seit 2007 ein Gesetz zur Wiedergeburtenkontrolle tibetischer Geistlicher formulierte, samt sogenannten „Verwaltungsmaßnahmen zur Reinkarnation lebender Buddhas des tibetischen Buddhismus.“ Für Peking liegt die Ernennung eines neuen Dalai Lama in den Händen der KPCh.
Recht auf Selbstbestimmung. Der Dalai Lama verlautbarte bereits 2015, dass er eventuell gar nicht mehr wiedergeboren werden könnte, sowie die Möglichkeit im Exil wiedergeboren zu werden. Für die tibetische Exilregierung ist klar: niemand entscheidet über die Reinkarnation des Dalai Lama, außer er selbst.
Einen von der chinesischen Regierung eingesetzten Dalai Lama würden die Tibeter:innen nicht akzeptieren. 1995 verschwand das zweitwichtigste buddhistische Oberhaupt, der Panchen Lama, samt seiner Familie spurlos. Der Panchen Lama war damals noch ein sechsjähriges Kind, dessen Reinkarnation kurz zuvor vom Dalai Lama aus dem Exil bestätigt worden war. Die chinesische Regierung wählte dann selbst einen neuen Panchen Lama aus, der jedoch bis heute von Tibeter:innen nicht als legitim anerkannt wird.
Der US-Kongress hat 2020 ein Gesetz zur Unterstützung Tibets erlassen, in dem explizit betont wird, dass es das exklusive Recht der tibetischen Buddhist:innen sei, alleine über die Nachfolge des Dalai Lama und anderer tibetischer Geistlicher zu entscheiden. Chinesische Funktionäre, die sich in diese Prozesse einmischten, sollten von den USA mit Sanktionen bestraft werden.
In jedem Fall werden die Tibeter:innen weiterhin ihr Recht auf Selbstbestimmung gegenüber der chinesischen Regierung einfordern. Und es wird internationale politische Aufmerksamkeit notwendig sein, um eine Lösung im Konflikt zwischen Tibet und China zu erreichen.
Sarah Helena Schäfer studierte Internationale Beziehungen, Journalismus und Soziologie und arbeitet seit 2023 als Journalistin in Wien. Zwischen 2019 und 2022 war sie Kampagnenreferentin der Tibet Initiative Deutschland in Berlin.
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